„Dankbarkeit“: Das fällt Sönke Wittnebel als Erstes ein, wenn er auf seine Zeit in Friedrichshafen blickt. Mehr als 30 Jahre war er als Kantor und Organist der Schlosskirche tätig. „Das ist der schönste Beruf, den ich mir vorstellen kann. Wenn ich mich noch einmal entscheiden müsste, würde ich ihn noch einmal wählen“, sagt er wenige Tage vor Beginn seines Ruhestands. Seine Arbeit sei nicht nur mit tiefem Sinn behaftet gewesen, sondern habe ihm auch viel Entscheidungsfreiheit ermöglicht.

Als er seine Stelle 1992 antrat, gab es neben der Kantorei einen Jugendchor mit drei Mitgliedern. Sönke Wittnebel baute die Chorarbeit von Grund neu auf und betrieb konsequente Nachwuchsförderung. Heute gibt es den Kinderchor, in dem die Kleinen ab drei Jahren mitsingen. Die Fünf- bis Sechsjährigen wechseln in die Mädchen- und Jungenkantorei. Die hatte Wittnebel zunächst getrennt: „Mir ist aufgefallen, dass in den Chören die Mädchen immer ganz vorn sind, ich wollte auch etwas für die Jungen anbieten.“ Immer häufiger hatten die Jungen aber nur zu den Mädchenterminen Zeit und umgekehrt, sodass sie sich schließlich wieder mischten. Die Älteren singen im Jugendchor, im Gospelchor Almost Heaven und in der Kantorei. „Die Kinder- und Jugendchöre sind wie eine Saat. Viele, die aus der Stadt weggehen, suchen sich dort einen Chor und singen weiter“, sagt Wittnebel.

Chorproben bilden einen Höhepunkt

Die Arbeit mit den Chören ist sein Hauptanliegen gewesen. „Ich komme eigentlich immer froh und erleichtert aus der Probe“, beschreibt er. „Es ist eine Situation vom Chaos zum Kosmos, wenn ich merke, es findet sich und wir haben so einen Flow-Effekt.“ Auch viele Chormitglieder haben ihm immer wieder versichert, dass die Probe der Höhepunkt ihrer Woche ist. „Mir war es wichtig, das soziale Miteinander ebenso zu fördern wie die künstlerische Entwicklung und schließlich das Teilen der Musik in Gottesdiensten und Konzerten“, sagt Wittnebel.

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Er führte nicht nur die Chöre zu einer musikalischen Qualität, die stets für volle Konzerte sorgte. Er gab auch Nachwuchssängern eine Bühne und bildete zukünftige Organisten im Kirchenkreis aus. 40 Schülern hat er die Orgel nahegebracht. „Es ist mir eine große Freude, dass drei junge Leute, die ich ausgebildet habe, den gleichen Weg einschlagen wie ich. Zwei sind bereits als Kirchenmusiker tätig, einer studiert noch“, sagt Wittnebel.

Unbekannte Stücke und Selbstläufer

Mit der Kantorei hat er zahlreiche selten gesungene Werke aufgeführt. „Wir haben fast alle Werke von Heinrich von Herzogenberg aufgeführt, den kennen viele gar nicht.“ Er mutete Chor und Publikum auch zeitgenössische Werke zu, die Jesus-Passion von Oskar Gottlieb Blarr zum Beispiel und die Missa Profana von Heinz Werner Zimmermann. „Darüber bin ich besonders froh, dass das mit dem Chor möglich war und dass viele Menschen auch diese Konzerte hören wollten“, sagt er. Andere Stücke wie das Requiem von Andrew Lloyd Webber seien Selbstläufer gewesen.

„Ich hoffe, dass wir uns auch die Codices erhalten, wie wir miteinander umgehen, zum Beispiel die Wertschätzung von Frauen“, sagt Wittnebel.
„Ich hoffe, dass wir uns auch die Codices erhalten, wie wir miteinander umgehen, zum Beispiel die Wertschätzung von Frauen“, sagt Wittnebel. | Bild: Corinna Raupach

Orgel ließ ihn bei Hochzeit im Stich

In den letzten Jahren seiner Tätigkeit setzte sich Sönke Wittnebel für die Renovierung und Erweiterung der Schlosskirchenorgel ein. „Ausgerechnet bei einer Trauung ließ mich die Orgel im Stich, sie funktionierte einfach nicht mehr“, erinnert er sich an den Anlass. Durch Spenden, Benefizkonzerte, Pfeifenpatenschaften und Zuschüsse kamen 700.000 Euro zusammen. Die alte Weigle-Orgel wurde gereinigt und saniert, der Spieltisch modernisiert und weitere Teilwerke ergänzt. „So richtig durchstarten mit dem Instrument kann jetzt mein Nachfolger.“

Zeit für den Garten, zum Lesen und für die Familie

Vieles und viele wird er vermissen. Doch er blickt auch mit Freude auf die Zeit, die vor ihm liegt: „Ich bin erleichtert, weil viel Organisatorisches von meiner Frau und mir abfällt.“ Seine Frau habe während seiner Tätigkeit ehrenamtlich viel im Hintergrund gearbeitet. „Wir sind mit der Kirchenmusik aufgestanden und zu Bett gegangen.“

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Jetzt freuen sich beide auf Zeit für den Garten, zum Lesen und für die Familie. „Ich möchte wieder mehr Orgel üben, gern auf dem Instrument in der Schlosskirche, dazu bin ich nicht so viel gekommen“, sagt Wittnebel. Er wird weiter Konzerte und Workshops geben – weit genug weg, um seinem Nachfolger nicht in die Quere zu kommen.

Einen großen Wunsch nimmt er mit: „Für die Kirche und für die Gesellschaft wünsche ich mir, dass unsere Kultur am Leben bleibt.“ Damit meint er nicht nur die abendländischen Errungenschaften in Musik und Kunst. „Ich hoffe, dass wir uns auch die Codices erhalten, wie wir miteinander umgehen, zum Beispiel die Wertschätzung von Frauen.“ Diese Werte und Maßstäbe seien es wert, für sie einzutreten trotz der Herausforderungen von Internet, Politik und Umwelt.